Weltrettung im Kriechgang

In der ersten Julihälfte tagte am Uno-Hauptsitz in New York das sogenannte High Level Political Forum (HLPF). Thema: die Fortschritte bei der Umsetzung der Agenda 2030. Auch die Schweiz hat dazu ihren Bericht vorgelegt. Doch die Realisierung der ambitionierten «Ziele für nachhaltige Entwicklung» kommt in der Schweiz kaum vom Fleck.   

2012, zwanzig Jahre nach der Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, dem «Earth Summit» in Rio de Janeiro, wurden die Weichen für die Sustainable Development Goals (SDG) gestellt. Das Ziel: Mit einem umfassenden Entwicklungsbegriff sollten auch die reichen Länder in die Pflicht genommen werden. 2015 verabschiedete die UN-Generalversammlung die in der Agenda 2030 zusammengefassten siebzehn Ziele für nachhaltige Entwicklung

Die einstimmige Verabschiedung der Agenda 2030 durch die 193 Uno-Mitgliedstaaten war ein ambitioniertes Bekenntnis der Weltgemeinschaft dazu, dass Wirtschaft, Soziales und Umwelt immer in gegenseitiger Wechselwirkung stehen. Nur wenn diese drei Dimensionen der Nachhaltigkeit im Gleichgewicht sind, kann Armut weltweit wirksam bekämpft werden, nur dann ist Fortschritt möglich, der nicht auf Kosten der gegebenen planetaren Grenzen geht. Was einen 2015 zuversichtlich stimmen konnte, war die Tatsache, dass der neue Rahmen zur globalen Zusammenarbeit nicht bloss von Diplomat:innen verhandelt worden war. Auch die mächtigsten globalen Wirtschaftsverbände und die Zivilgesellschaft, vertreten durch NGOs, waren intensiv konsultiert worden. 

Schon 2015 gab es kritische Stimmen, welche die Agenda 2030 für einen naiven Versuch halten, die Menschheit auf einen Kurs zu bringen, der auch zukünftigen Generationen ein Leben in Frieden und Freiheit ermöglichen soll. Tatsächlich fällt 2022 die Zwischenbilanz zur Erreichung der gesteckten Uno-Ziele ernüchternd aus. Zuerst zeigte die Corona-Pandemie schonungslos, dass nationale Eigeninteressen klar höher gewichtet werden als globale Solidarität. Und seit Ende Februar macht der Ukraine-Krieg deutlich, wie dünn der Firnis der Zivilisation wohl schon immer war: Städte werden in Schutz und Asche geschossen, Millionen vertrieben, Energie und Nahrungsmittel als Waffen eingesetzt, der Cyberkrieg eskaliert.
Über die rasch fortschreitende Klimakatastrophe wird zwar viel gesprochen und geforscht. In der globalen Prioritätenordnung ist sie allerdings weit zurückgefallen. Jetzt rächt sich, dass der Umbau der weltweiten Energieversorgung höchst zögerlich vorangetrieben wurde. Und es passt ins traurige Bild, dass die Macht und die Gewinne der globalen Erdölkonzerne neue Höhepunkte erreicht hat. 

Noch vor der Doppelkrise Pandemie/Ukraine hatte im September 2019 eine unabhängige wissenschaftliche Expertengruppe unter der Leitung des Berner Professors Peter Messerli im Auftrag der UNO ihren Weltnachhaltigkeitsbericht vorgelegt. Die erforderliche umfassende Transformation werde nicht einfach sein und müsse mit einem umfassenden Strukturwandel einhergehen, heisst es dort. Voraussetzung dafür sei ein starker politischer Wille. «Die Agenda 2030 wird uns alle zwingen, harte politische Entscheide zu fällen», so Peter Messerli.

Ein Land zwischen Pragmatismus und Opportunismus

Der Beitrag der Schweiz zur Agenda 2030 ist zwiespältig. Bei der Erarbeitung der 17 Nachhaltigkeitsziele und ihrer 169 Unterziele hatte sich die Schweiz von ihrer besten Seite gezeigt. Versierte Schweizer Diplomat:innen und die in New York gut vernetzte NGO Biovision brachten abseits der Öffentlichkeit wertvolle Expertise in den Prozess ein. Doch nach der Unterzeichnung der Agenda 2030 schrumpfte der Beitrag der Schweiz auf das, was sie meist auszeichnet, wenn es darum geht, die eigene Rolle in der Weltgemeinschaft zu definieren oder gar selbstkritisch zu hinterfragen: Mit ihrer DNA – dem Dreiklang aus Föderalismus, Neutralität und Eigennutz – laviert die Schweiz in ihrem Beitrag zu echter globaler Nachhaltigkeit zwischen Pragmatismus und blankem Opportunismus.

Schon 2018 hatte der Bundesrat einen ersten Zwischenbericht über die Bemühungen der Schweiz zur Erreichung der Uno-Entwicklungsziele veröffentlicht. Der Bericht strich heraus, was die Schweiz bereits sehr gut mache. Dort wo die Wissenschaft aber klaren Handlungsbedarf geortet hatten – etwa beim ökologischen Fussabdruck, beim guten Leben auf Kosten Dritter, klaffte eine grosse Leerstelle. Der jährlich von Autor:innen um den Ökonomen Jeffrey Sachs publizierte Sustainable Development Report untersucht diese sogenannten Spillover-Effekte. Dabei landete die vermeintliche Musterschülerin Schweiz 2021 auf dem 161. Platz aller 193 Uno-Mitgliedsländer. Was von Schweiz Tourismus, der nationalen Organisation für Tourismusvermarktung, dann unter dem Motto «Swisstainable» vermarktet wird…

2021 veröffentlichte der Bundesrat endlich seine Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 (SNE 2030). «Was lange währt, wird doch nicht gut», ätzte die zivilgesellschaftliche Plattform Agenda 2030 und bemängelte, dass das Uno-Ziel, in jedem Land bis 2030 die Armut zu halbieren (SDG 1), verwässert worden sei. Dem Bundesrat hatte es gereicht, sich ohne Ambitionen zur «Reduktion der Armut» zu bekennen. Zur Erinnerung: In der reichen Schweiz sind 1,3 Millionen Menschen armutsgefährdet, das heisst sie haben in einem der teuersten Länder der Welt weniger als 60% des mittleren Einkommens zur Verfügung. Ebenfalls vermisste die Plattform Schritte, um den Finanzplatz zu regulieren und damit klimaschädliche Investitionen via die Schweiz zu unterbinden. Weder der konsequente Schutz der Biodiversität noch die Bereitstellung spezieller Mittel zur Umsetzung seiner Nachhaltigkeitsstrategie fanden Eingang in die SNE 2030. 

2022 erleben wir ein Déjà vu: Der Bundesrat hat anfangs Mai einen weiteren hübsch gestalteten Länderbericht veröffentlicht. Ganz klein auf Seite 17 unter dem Stichwort Zielkonflikt stehen die bemerkenswerten Zeilen «Wirtschaftswachstum muss vom Verbrauch natürlicher Ressourcen und Treibhausgasemissionen entkoppelt werden, damit die Ziele von SDG 12 (verantwortungsvoller Konsum und Produktion) erreicht werden können. Ein angepasstes Verständnis von gesellschaftlichem Wohlstand und dessen Verteilung kann diese Entkopplung unterstützen». Während sich der Bund in Kann-Formulierungen ergeht, haben einzelne Kantone, Städte und Gemeinden den Ernst der Lage durchaus begriffen und begonnen, in ihren Verwaltungen transversal über die Silos einzelner Dienstabteilungen hinaus zu denken und vor allem auch zu handeln. 

Rechtzeitig zum HLPF in New York Woche hat auch die Schweizer Zivilgesellschaft einen weiteren Bericht veröffentlicht. Titel: «Weiter wie bisher auf Kosten der Welt?». Der sorgfältig redigierte Bericht greift auf die Expertise von NGO-Fachleuten in allen 17 Nachhaltigkeitszielen zurück und wirft dem Bundesrat vor, sich «auf koordinierende Mechanismen und das Verwalten von Konsultationsprozessen zu beschränken.» Eine Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft erfordere hingegen eine starke Leadership. Und: «Mehr Kohärenz für nachhaltige Entwicklung bedeutet nicht, den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen beteiligten Bundesämtern zu finden, sondern Überzeugungsarbeit zu leisten für zukunftsfähige Lösungen.» So liege ein Grundproblem in der Schweiz in der ungenügenden Übersetzung der SDGs und ihrer Unterziele in die nationale Politik. 

Eine sehr schweizerische Zivilgesellschaft

Zur Zivilgesellschaft gehören nicht nur die Flaggschiffe unter den hiesigen Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Public Eye, WWF, Pro Natura, Greenpeace, Caritas, Helvetas, HEKS u.a.m. an, sondern auch die Kirchen und die Gewerkschaften. In ihren Bereichen leisten sie alle seit Jahren wertvolle und kompetente Arbeit, das Konzept der Nachhaltigkeit ist ihnen bestens vertraut. Allein, bei ihrer konkreten Zusammenarbeit zur Weltverbesserung, wie es sich die Vereinten Nationen mit den SDG vorgenommen haben, zerreisst auch die Schweizer Zivilgesellschaft keine Stricke. Zwar haben sich in der Plattform Agenda 2030 rund 50 Vereine, Verbände, NGOs und Gewerkschaften zusammengeschlossen, die in Bern angesiedelte Geschäftsstelle finanzieren sie gemeinsam jedoch nur mit einem mageren 60%-Pensum. Auf die Fahne geschrieben hat sich die Plattform, die Umsetzung der SDG in der und durch die Schweiz kritisch zu begleiten. Doch eine 60%-Stelle reicht bestenfalls, um beim politischen Prozess in der Bundesstadt an der Seitenlinie zu stehen; eine effiziente Informations- und Lobbyarbeit, die kontinuierlich spür-, sicht- und hörbar in die Medien, die Politik und die Gesellschaft hineinwirken würde, sähe ganz anders aus. Fehlt möglicherweise auch in der Schweizer Zivilgesellschaft die Einsicht, dass nur ein holistisches Verständnis die Welt wirklich weiterbringen kann, dass nur uneigennützige Zusammenarbeit zu echtem Fortschritt führen kann? Solange auch NGOs in ihren Silos verharren und dort ihre Themen in den gewohnten Bahnen bearbeiten, wird das bis auf weiteres auch hierzulande nichts mit der angestrebten grossen Transformation. Jedes Land hat offenbar nicht nur das politische System und die Regierung, die sie verdient, sondern auch die organisierte Zivilgesellschaft, die zu ihrem tieferen Wesen passt.

Privatsektor betreibt Greenwashing – aber nicht nur 

So wichtig die politische Führung und eine engagierte Zivilgesellschaft für die Umsetzung der SDG in einem Land sind, so wenig kann letztlich ohne die Wirtschaft bzw. den Privatsektor erreicht werden. Für seriöse Unternehmen – unabhängig von ihrer Grösse – sollte die Nachhaltigkeit ihres Tuns allerdings schon lange ein zentrales Thema sein, denn wer ein Unternehmen nicht allein im kurzfristigen Eigeninteresse führt, denkt zwangsläufig in längeren Zyklen. Wer bloss die nächsten Quartalszahlen im Blick hat, wird jedoch wenig für seine soziale und ökologische Verantwortung übrighaben. In diesem Fall schrumpft Nachhaltigkeit zum ärgerlich strapazierten Buzzword, mit dem sich Hochglanzbroschüren der Marketingabteilung und die Werbung zeitgeistig schmücken lassen. In der Finanzwelt hat sich das Kürzel ESG (environment, social, governance) eingebürgert, um die eigenen Bemühungen in diesen Bereichen zu dokumentieren. Fakt ist, dass in Sachen Nachhaltigkeit grundsätzlich alles behauptet werden kann, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen, das sogenannte Greenwashing. Dessen Ausmasse in der Schweiz hat eine Umfrage der UBS ans Licht gebracht. Zwar unterstützt eine grosse Mehrheit der 2’500 befragten Firmen, dass Netto-Null-Ziel (keine CO2-Emissionen bis 2050) und dürfte dies auch entsprechend kommunizieren. Doch nur gerade zehn Prozent der Befragten sind bereit, ihren eigenen Verbrauch von fossilen Energieträgern schon im laufenden Jahrzehnt stark einzuschränken. 

Sicher, auch unter Schweizer Konzernen und Firmen gibt es den ernsthaften Umgang mit dem Nachhaltigkeitsthema. Genauso sicher ist, dass PR-Strategen den Kund:innen in Sachen Nachhaltigkeit schamlos das Grüne vom Himmel flunkern. Und selbstverständlich gibt es viele Grautöne dazwischen; da dürfte sich die Unternehmenswelt in unserem Land nur wenig von Unternehmen anderswo unterscheiden. 

Ein Land genügt sich selbst

Die Schweiz und ihr austariertes System gelten angesichts ihres Wohlstands als Erfolgsmodell. Doch in einer Welt in zunehmender Schieflage wird es auch der Schweiz immer schwerer fallen zu prosperieren, zumal wir zu den am meisten globalisierten Ländern der Welt überhaupt gehören. Dabei fehlt es nicht an internationaler Kritik, das Schweizer Modell tauge nicht zum Vorbild, denn es erfülle weder die Anforderungen an ein funktionierendes und gerechtes Wirtschaftssystem, noch an sozialen Ausgleich zwischen Nord und Süd, aber auch nicht an eine vorausschauende Klimapolitik. 

Dabei könnte man auf den Gedanken kommen, dass sich dieses gut organisierte Land einfach selbst genügt, so wie es ist. Der oft diagnostizierte Reformstau – vielleicht müsste man eher von Reformunwilligkeit sprechen – spricht für diese These. Zukunftsträchtig ist es allerdings nicht. Und nachhaltig (frz. durable, also dauerhaft) schon gar nicht.  

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Terry Hall (1959-2022)

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Ach Schweiz, du und deine Expos…