Was für eine Zukunft?

Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Ich mag dieses wahlweise Mark Twain oder Karl Valentin zugeschriebene Bonmot, weil es unsere vielen Fragen, unser tappendes Suchen in Sachen Zukunft so träf und ironisch auf den Punkt bringt. Über die Zukunft nachzudenken, zu spekulieren, was auf uns zukommt und wie wir das beeinflussen können/sollten/müssten, ist ein Volkssport. 

Dem Volkssport zugetan sind auch die Medien, die ja nicht zuletzt – erst recht im Sommerloch – davon leben, zu spekulieren und Fragen zu diskutieren, auf die es keine verlässlichen Antworten gibt. Das Spiel kann immer weiter gehen, die Zukunft als publizistisches Perpetuum mobile. So interpretiere ich jedenfalls die Anfrage der NZZ am Sonntag, die einen bunten Strauss von Fragen zur Zukunft an tatsächliche und vermeintliche Expert*innen losgeschickt hat und daraus gelegentlich einen flockigen Artikel zusammenstellen wird.

Mich haben die Fragen via X27 erreicht. X27 ist die Idee für eine Landesausstellung 2027, die anders als alle bisherigen Expos werden soll. X27 stellt die Bottom up-Idee konsequent ins Zentrum, ein Gegenprogramm zu einer fadenscheinige Mitmachkampagne und falschem Gesäusel von Partizipation, wo am Schluss dann doch Technokrat*innen entscheiden, was wo wie sichtbar gemacht wird. Landeseinstellung statt Landesausstellung –ein schöner Ansatz. Zugegeben, das ist ein ziemlich radikaler Ansatz, für mich aber mehr als eine hübsche Denkfigur. Sonst hätte ich dieses Frühjahr nicht die (soziokratisch konsentierten) Texte der X27-Website geschrieben. 

X27 hat richtigerweise entschieden, bei der Zukunftsumfrage der NZZaS nicht mitzumachen. Zu divers ist die Bewegung der Zivilgesellschaft, um via Medien top down deklariert zu bekommen, wie sich X27 die Zukunft vorstellt, erhofft, erträumt, mit-erarbeiten und gestalten will. 

Weil mich Zukunftsfragen tagtäglich beschäftigen, hier meine persönlichen, vom NZZ-Frame etwas abweichenden Antworten auf die Umfrage.  

1.     Wenn Sie unendlich viel Geld und politische Macht hätten, um das Land neu zu erfinden: Was würden Sie konkret ändern?

Sorry, diese Frage ist mir a) zu hypothetisch, irgendwie absurd und b) kann und will ich hier weder ein Partei- noch Regierungsprogramm formulieren. 
Aber ich kann doch festhalten: Ich würde wohl meinen Einfluss subsidiär dort geltend machen, wo die Prioritäten heute meines Erachtens falsch gesetzt werden. Von Politik und Verwaltung, von der Wirtschaft und – geschenkt! – auch von den Stimmberechtigten.  

2.     Wie soll die Schweiz in 50 bis 100 Jahren aussehen? 

Disclaimer: Das hier folgende Wunschprogramm geht leider nicht darauf ein, wie und mit welchen ganz konkreten Schritten wir dorthin kommen sollen. 
Als reiches, von der Geschichte nachhaltig privilegiertes Land hat die Schweiz in 50 bis 100 Jahren ihre Verantwortung nach innen und aussen wahrgenommen: Inklusion, Solidarität und nachhaltige Entwicklung stehen im Zentrum ihres Handelns. Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft haben das verinnerlicht und handeln nach dieser Richtschnur gemeinsam die besten Lösungen für alle aus. 
Etwas konkreter? Nach innen heisst das u.a. Stimm- und Wahlrecht für alle, die mindestens vier Jahre in der Schweiz niedergelassen sind und Steuern bezahlen, so wie das die Aktion Vierviertel in ihrem Manifest einer modernen Schweiz verlangt. Nach aussen heisst das u.a. die Schweiz ist ein respektiertes Land, das nicht nur in der EU, sondern in allen relevanten multilateralen Organisationen, für ihren konstruktiven und hartnäckigen Einsatz im globalen Interesse geschätzt wird. Im Zentrum steht dabei die kapitale Frage, wie die Welt als Ganzes mit der Klimakatastrophe und dem Verlust der Biodiversität umgeht und welchen Beitrag die Schweiz dazu leisten kann.

3.   Wovon müssen wir uns trennen?
Eine ebenso einfache wie komplexe Frage. Wer nur schon die eigene Trägheit kennt, weiss, wie schwierig das für ganze eine Gesellschaft und Systeme umzusetzen ist. 
Mir ist klar, dass wir uns von Egoismus und fehlender Empathie trennen müssen. Und von der Idee, dass jedeR einen SUV braucht, selbst wenn dieser elektrisch angetrieben ist.

4.     Von welchen Denkreflexen und Mustern müssen wir uns verabschieden?

Siehe 3.
Verabschieden müssen wir uns von der Idee, dass wir Schweizer*innen etwas Besonderes seien. Und die Menschheit als Ganzes täte gut daran zu begreifen, dass Wachstum statt bloss einer quantitativen unbedingt und vermehrt auch eine qualitative Dimension haben muss.

5.     Wo liegen unsere Potentiale in der Zukunft? 

Die Potentiale der Zukunft sind dieselben, die wir (in der Schweiz) heute schon haben. Das Problem ist, dass wir diese Potentiale ungenügend nutzen: Unsere Diversität, die Fähigkeit zur (vergleichsweise akzeptabel gelingenden) Integration Zugewanderter, unser politisches System mit drei Staatsebenen; aber auch die im internationalen Vergleich nach wie vor relativ gute Verteilung von Wohlstand, die soziale Mobilität und die Sicherheit. Siehe dazu auch 8.

6.     Was muss neu erfunden werden? 

Nichts, es ist alles schon da, Innovation – nicht nur im technischen, auch im gesellschaftlichen Bereich – kommt laufend dazu. Vor allem bereits da ist das Wissen, wie man vieles besser machen und organisieren könnte. Die Crux liegt darin, dass wir dieses Wissen nicht auf den Boden bringen.  

7.     Wie müssen Schule und Bildung für die Zukunft der Schweiz verändert werden? 

Schule und Bildung müssen an den Erfordernissen einer qualitativ hochstehenden Bildung mit Chancengerechtigkeit für alle ausgerichtet werden. 

 8.     Ist unser politisches System fit für die nächsten 200 Jahre? Was muss sich ändern? 

Auch ein bewährtes politisches System braucht hin und wieder ein Update, um fit für neue Herausforderungen zu sein. Wenn Minderheiten oder gar eine Mehrheit der Bevölkerung (Ständemehr) regelmässig überstimmt werden, die Polarisierung zum politischen Geschäftsmodell wird, dann wird die Zukunftsfähigkeit der Schweiz in Frage gestellt. Konkreter: Die Lösungen für steigende Gesundheitskosten, sinkende Renten, eine hochsubventionierte, naturferne Landwirtschaft, die Energie- und damit die Klimafrage (u.a.) werden heute von starken Lobbies und Partikularinteressen blockiert und können so kaum mehr (Volks- und Stände-)Mehrheiten finden. An klugen Köpfen aus allen Bevölkerungskreisen, Parteien und Landesteilen wird es liegen, hier neue Modelle zu entwickeln, die kompromissfähig und zukunftsfähig sind. 

9.     Über die Schweiz existieren verschiedene Klischees (Bankenland, Reichtum, Kuhland, Käseland, Heidi, etc.). Welche Klischees sollte sich die Schweiz in Zukunft erarbeiten? 

Klischees fallen nicht vom Himmel, sie haben oft mehr als nur einen wahren Kern. Nicht umsonst halten sie sich auch so hartnäckig. Ein andere, üble Geschichte ist notabene die Instrumentalisierung und Bewirtschaftung von Klischees. Schön wäre es, wenn die gängigen Klischees zur Schweiz so lauten würden, wie in 2. skizziert.  

10.  Denken Sie an Zürich/Genf/Basel. Wie sieht es in 100 Jahren in diesen Städten aus, in der Agglomeration und auf dem Land? 

Aktuell spricht alles dafür, dass die Schweiz In 100 Jahren noch viel stärker zugebaut sein wird als heute. Und dies anhaltend planlos. Der Druck auf den Boden, aber auch auf die Natur wird sich weiter zugespitzt haben, die Grenzen zwischen Kernstädten, Agglomeration und unverbauter Natur sind noch mehr verwischt. Wie es in 100 Jahren bei uns aussieht, hängt massgeblich davon ab, ob es der Politik (siehe 8) gelingt, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die absehbare Entwicklung nicht vollends aus dem Ruder läuft. Ein Ziel muss dabei sein, dass es nicht zur Bildung von Parallelgesellschaften und abgehängten Landstrichen kommt, wie wir es bereits heute aus Nachbarländern kennen.

11.  Wie soll die Schweizer Gesellschaft in 100 Jahren aussehen?  

Die Schweiz soll in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung des Planten und des eigenen Landes konsequent handeln. Was Forschung und Wissenschaft, deren Unabhängigkeit hartnäckig zu verteidigen ist, hierzulande und global erarbeiten, soll mit Selbstverständlichkeit auch in der Politik umgesetzt werden. Was Wertschöpfung ist und bedeutet, soll grundsätzlich anders gesehen und bewertet werden als heute. Was ich damit meine, ist bei Mariana Mazzucato («The value of everything – Making and taking in the global economy») nachzulesen.

***

Pah, das sind viele schöne Worte, die in dieser Dichte ganz schön wohlfeil und abgedroschen klingen. Aber dermassen offen formulierte Fragen über die Zukunft führen wohl zwangsläufig dazu. Sonntagszeitungslektüre halt.

Letztlich führt kein Weg an der Frage vorbei, welche Mischung aus mehr oder weniger sanftem Druck und Anreizen nötig sind, um als Gesellschaft in die gewünschte Richtung nachhaltiger Entwicklung zu schwenken. Wobei der Begleitlärm von rechts um den Begriff «Freiheit» in diesem Zusammenhang schon heute ziemlich ohrenbetäubend ist. Aber das ist ein anderes Thema. 

Ich erinnere mich an eine Studie von swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung aus dem Jahr 2011, die vier Szenarien für den Wertewandel bis ins Jahr 2030 vorstellte. Während ein Szenario für 2030 von einer veritablen Ökodiktatur ausging, rechnete ein anderes mit einer weiteren Entsolidarisierung der Gesellschaft nach libertären Prinzipien.
Ich erinnere mich, damals gedacht zu haben: Gut und recht, aber am Schluss werden wir einen Mix aus den vier Szenarien erhalten (an die anderen beiden erinnere ich mich nicht mehr).
Was für mich jedoch nicht heisst, in Sachen Zukunft gleichgültig zu sein.

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Dado und Didier