Dado und Didier

«Quite possibly, the most exciting day of football. Ever.» So lautete der Guardian-Pick der Leserkommentare nach den zwei EM-Viertelfinals (ESP-CRO 5:3 n.V, SUI-FRA 8:7 n.P.) vom 28. Juni.

Fussball als grosse Metapher für das Leben, für die dünne Linie zwischen Himmel und Hölle, ein ziemlich abgegriffenes Bild. Fakt ist, dass sich Drama und Dramaturgie im Fussball so erleben lassen, wie sonst wohl nirgends. 

Für mich war Fussball immer auch ein Fenster zur Welt, seit ich mir vor 50 Jahren die westeuropäische Geografie via Fussballresultate erschlossen habe: Cagliari, Bilbao, Marseille, Kaiserslautern, Leeds… Und seither hat mir Fussball immer wieder prima Geschichten erzählt, über Kultur und Kommerz, über Politik und Globalisierung. Während sich im Clubfussball längst alles um Kohle bzw. Öl oder Gas dreht, sind Länderturniere (WM, EM, Africa Cup, Copa América etc.) immer noch und immer wieder Anlässe, wo Nationalismus ungehemmt und kaum hinterfragt Urständ feiern darf. Was soll’s, dass die Kicker doch nichts anderes als hochbezahlte Söldner sind, die zwar nicht um ihr Leben, aber um ihren Marktwert rennen. So weit, so banal.

Speziell verhält es sich mit der Schweiz und ihrer sogenannten Nati. Kämpften sich früher jeweils elf Bio-Schweizer von einer ehrenvollen Niederlage zur nächsten, hat sich das Bild im 21. Jahrhundert prägnant verschoben, das post-migrantisch geprägte Team, qualifiziert sich regelmässig für EM- und WM-Turniere. Wie die Schweizer Mannschaft von der Bevölkerung – angefeuert von den Medien – begleitet wird, gibt dabei ein bemerkenswert akkurates Bild der migrationspolitischen Stimmung in unserem Land wieder. Es kann nicht genug kritisiert und genörgelt werden über die undankbaren Secondos, nicht selten mischen sich fremdenfeindliche Untertöne in die Kommentare. In den letzten zwei Wochen war es allenthalben wieder so zu lesen und zu hören: Wenn sie schon nicht kämpfen können, stattdessen ihre Frisuren, Tattoos und Autos im Kopf haben, dann verdienen diese Gavrano- und Seferovics, diese Rodriguez, Xhakas, Shaqiris, Akanjis, Mbabus und Embolos auch nicht, das Schweizerkreuz auf der Brust zu tragen. OMG.

Und jetzt das. Mit dem nötigen Glück, vor allem aber dank solidarischer Teamleistung, exzellentem Coaching und solistischen Glanzlichtern – der regelmässig mässig bescheiden auftretende Granit Xhaka hat im exakt richtigen Moment als man of the match das vielleicht beste Spiel seines Lebens gemacht – hat die Schweiz im EM-Achtelfinal Weltmeister Frankreich aus dem Turnier geworfen. Da lohnt es sich, die Reaktionen nach dem Spiel anzusehen. Und siehe da: Xhaka spricht akzentfrei Hochdeutsch, Embolo parliert fliessend Französisch und Trainer Petkovic ist auf Italienisch top eloquent und ganz bei sich. Alles Schweizer Landessprachen und notabene sprächen die Schweizer Kicker wohl besser Englisch als jene, die sich über die harten Balkanakzente im Dialekt einiger Schweizer Kicker aufregen. Wie wäre es, wenn die Interviewten bei ihren TV-Interviews selbst wählen könnten, in welcher Sprache sie Antwort geben wollen und das simultan übersetzt würde?
Vor allem Trainer Vladimir Petkovic quält sich seit Jahren mehr schlecht als recht auf Deutsch durch die Deutschschweizer Medien, bisweilen scheint man ihn gar nicht verstehen zu wollen. Seine Vorgänger Köbi Kuhn und Ottmar Hitzfeld hat er jetzt sportlich zwar für immer überholt, die Balkanressentiments werden bleiben. Petkovic wird sich auch darüber keine Illusionen machen, der Mister der Schweizer Nati, dafür ist der Tessiner Kroate aus dem einst multikulturellen Sarajevo, wo er für alle Dado heisst, ganz einfach zu cool. 

Anders ist die Gemütslage am Tag danach in Frankreich. Wobei erstaunlich vieles an die Fussball-Schweiz schlechterer Tage erinnert: Schuld an der Niederlage ist der Trainer Didier Dechamps, der das Spiel vercoacht haben soll. Vor allem aber hat er den Real-Star Kerim Benzema, der einen französischen Teamkollegen erpresst haben soll, kurz vor dem Turnier die Rückkehr in die Equipe tricolore ermöglicht. Benzema dankte es Dechamps zwar mit vier Toren an der EM, aber er fand den Faden zu Kylian Mbappé nicht. Und weil dieser den entscheidenden Penalty verschoss, ergiesst sich jetzt zusätzlich kübelweise Häme über das Wunderkind des französischen Fussballs. Und Paul Pogba? Schoss zwar ein traumhaftes Tor, hätte aber danach keinesfalls ein Tänzchen aufführen dürfen, viel zu arrogant sei das gewesen. Auch hier: An guten Tagen feiern die Franzosen ihre Multikulti-Truppe, läuft es mal weniger, sind die Schmähungen schnell zur Hand. 

Ein Wort noch zum Schweizer Fernsehen SRF, dessen unsäglicher Dampfplauderi Sascha Ruefer viel zur meist plump-polemisch gefärbten Fussballstimmung in der Deutschschweiz beiträgt. Warum darf der das immer noch, warum stellt man ihm nicht wenigstens eine*n Ko-Kommentator*in zur Seite? Und Rainer Maria Salzgeber im Interview mit Dado? Ein Desaster. Nein, kein SRG-Bashing hier. Denn sowohl RTS als auch RSI machen das um Längen professioneller und kompetenter. 

Natürlich lohnt es sich nicht nur nach Nächten wie dieser, über die Grenzen zu schauen, zu hören und zu lesen. Dort erfahre ich, dass die beiden FA-Cuphalbfinals vom April 1990 (Crytal Palace-Liverpool 4:3 und Manchester United-Oldham 3:3) in Sachen Spektakel dem 28. Juni 2021 das Wasser reichen konnten. Aha.

PS. Ich gehöre als Bio-Schweizer selbstverständlich hin und wieder auch zu den Nörglern. Gestern aber hatten die Schweizer vom ersten Moment an soviel Grinta, dass ich selbst nach dem 1:3 noch zuversichtlich blieb: «Ein zweites Tor und alles ist wieder möglich!». Es gibt Zeug*innen. Ein unvergesslicher Abend.

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Applaus für Adolf