Applaus für Adolf

Adolf Muschg hatte zuletzt mit einem unsäglichen Auschwitzvergleich für Ärger gesorgt. Sein Essay zur Schweizer EU-Politik verdient hingegen gelesen zu werden.

Zum bundesrätlichen Abbruch der Verhandlungen mit der EU um eine Rahmenabkommen ist schon einiges geschrieben und das aus meiner Sicht Wesentliche gesagt worden. Wer mag, findet hier die Links zu den Analysen von Markus Mugglin («Souverän wäre anders»), Gieri Cavelty («Eine dumme und nutzlose Geste») und dem Interview mit André Holenstein («Den Blick fürs grosse Ganze aus den Augen verloren») – Gret Haller hatte die Schweizer EU-Diskussion schon zum Inkrafttreten des Brexits anfang Jahr prägnant auf den Punkt gebracht («2021: Take back control!»).

Und jetzt also Adolf Muschg in der NZZ. Muschg fragt sich, wie Gottfried Keller, die nicht nur literarisch, sondern auch staatsphilosophisch herausragende Schweizer Stimme des 19. Jahrhunderts, auf die heutige vertrackte Situation reagiert hätte. Keller hatte intensiv über die föderalistische Schweiz und ihre Rolle in einem fragmentierten Europa nachgedacht. Muschg schreibt in seinem Essay, dessen Europareferenz zu Keller hier nicht zusammengefasst werden soll, An der Wurzel der europäischen Einigung sitzt ein Trauma, das die Schweiz nicht erlebte. Was ihr erspart blieb, hat sie kapitalisiert – mit einem Erfolg, der ihren Wohlstand selbstgerecht gemacht hat und ihre Neutralität phantasielos. Und weiter unten: Hier sind Kleinkrämer am Werk, die am Rechnen mit bekannten Grössen (die Zukunft gehört leider nicht dazu) nichts versäumen – und eben darum nicht gut genug rechnen.

Ich vermute, im Zentrum der Schweizer EU-Diskussion stehen weder die Unionsbürgerrichtlinie, der Lohnschutz noch die staatlichen Beihilfen, nein im Kern geht es um unsere «Souveränität» (Duden: Unabhängigkeit vom Einfluss anderer Staaten). Eine solche hat es für einen Kleinstaat im Herzen Europas gar nie gegeben, das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Das versteht jeder historisch einigermassen gebildete Mensch ohne ideologische Scheuklappen. Den Nationalkonservativen ist es seit dem hauchdünnen EWR-Nein von 1992 gelungen, den Begriff Souveränität nachhaltig zu besetzen, verquer neu aufzuladen und von der Realität abzukoppeln. Trat der unheimliche Patriot C.B. damals noch praktisch allein gegen die übrigen versammelten Parteien, Verbände und Meinungsmacher*innen an, so präsentiert sich die Schweiz heute entlang von tatsächlichen und eingebildeten Eigeninteressen aufgesplittert wie noch nie. Chapeau für diese Lebensleistung, C.B.

Was mich persönlich am Schweizer EU-Debakel am meisten stört: Viermal pro Jahr stimmt der Schweizer Souverän (sic!) über Bundesbeschlüsse, Gesetze, Initiativen und Referenden ab. Darunter sind eminent wichtige Fragen, etwa wie wir es mit den Grundrechten halten, ewig Strittiges (Gesundheits-, Verkehrs-, Landwirtschafts-, Waffenausfuhr- und Rentenpolitik etc.), Kurioses (Kuhhörner) und Populistisches, wie gegen eine Religion gerichtete Bau- und Kleiderordnungen in der Verfassung. Aber über die Frage, wie die Schweiz das Verhältnis mit ihrem wichtigsten Handelspartner gestaltet, darunter alle Nachbarstaaten, mit denen uns Kultur und eine jahrhundertealte Geschichte verbindet, darüber entscheidet ein Gremium von sieben Männern und Frauen allein. 

Unsere Regierung hat über Jahre mit Brüssel ein Abkommen ausgehandelt. Dass dabei selbst gesetzte rote Linien überschritten wurden, ist bedauerlich, steht hier jedoch nicht zur Diskussion. Nach Abschluss der Verhandlungen hätte das Vertragswerk ins Parlament und schliesslich den Stimmberechtigten vorgelegt gehört. Selbst eine Ablehnung durch die Stimmberechtigten wäre eine bessere Grundlage für einen Neustart mit Brüssel gewesen als das, womit wir jetzt konfrontiert sind. 

Wie kommt der Bundesrat dazu, in vorauseilender Angst vor der antieuropäischen Stimmungsmache, vor den versammelten Kleinkrämern mit ihren Partikulärinteressen einzuknicken? Das ist nicht nur ein Zeichen eklatanter Führungsschwäche, sondern auch zutiefst undemokratisch. Zurück zu den Schweizer Grossschriftstellern, Frauen darunter gibt nur wenige: Max Frisch sprach nach dem Auffliegen des Fichenskandals vom «verluderten Staat», Friedlich Dürrenmatt verglich die Schweiz mit einem Gefängnis, dessen Bewohner zugleich Wärter und Gefangene seien. Erschreckend, wie wenig viel weiter wir gekommen sind. 

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Dado und Didier

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