Stop Making Sense

Bei zwei Zürcher Vorpremieren zur Wiederaufführung des 40 Jahre alten Konzertfilms “Stop Making Sense” mit den Talking Heads habe ich ein paar einführende Worte gesagt. Wiederbegegnung mit einer wichtigen Band.

”Ich bin hier als Musik-Experte angekündigt. Als das sehe ich mich nicht wirklich, ich bin seit mehr als fünf Jahrzehnten Musikfan und die Talking Heads haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. In den 1980er Jahren habe ich in Zürich Rock-Konzerte mitveranstaltet und dann während sechs Jahren bei DRS3 SOUNDS als Teil eines grossartigen Teams dem Radiopublikum zu erklären versucht, was gute Pop- bzw. Rockmusik ist.

Meines Wissens sind die Talking Heads zweimal in der Schweiz aufgetreten. Im April 1977 vor ein paar hundert Nasen im Zürcher Volkshaus im Vorprogramm ihrer New Yorker Label-Kollegen Ramones. Beide Bands wurden als Punk angekündigt. Während sich die Ramones wie es sich gehörte für Sex, Drugs and Rock’n’Roll interessierten, gingen die Heads – so wird kolportiert – in den europäischen Städten ihrer Tour lieber in die Museen.

Der Tages-Anzeiger schrieb: Was die aufs äusserste Minimum von Melodie, Rhythmus und Text reduzierte Musik der Ramones mit den liebenswürdig-täppischen Jekami-Liedchen der Talking Heads gemeinsam hat, blieb unklar. (…) Bei den Talking Heads erübrigt sich jede Kritik: die Musiker (und der übrigens weibliche Bass) sind kaum fähig, eine Gitarre richtig zu halten, geschweige denn, darauf zu spielen.

Na ja, auch Musikkritik ist bisweilen Glückssache.

Das zweite Konzert der Talking Heads war dann ihr unvergesslicher Auftritt im Sommer 1982 in Montreux, den wohl einige von euch Anwesenden miterlebt haben. Radio DRS übertrug live, die Musikkassette mit dem Konzertmitschnitt war jahrelang eine meiner meistgehörten. Seit einem Jahr kann man den Auftritt auf YouTube ansehen bzw. anhören.

Die Frage ist, wie nerdig kann, soll, darf ich sein, wenn es um die Talking Heads geht? Notabene waren die Talking Heads der frühe Inbegriff einer Band für Nerds, lange bevor es dieses Wort in unserem Sprachgebrauch gab. Sie galten als Band für Studis und Intellektuelle, wurden von der Kritik als Art-Punk u.ä. bezeichnet. Als ob nicht auch ein Grossteil aller britischen Bands schon immer eine Kunstschule besucht hätten. Aber die Talking Heads kamen nicht aus der britischen Art School, sie waren amerikanisch. Und wie.

Der Film STOP MAKING SENSE, den ihr gleich sehen werdet, wird als der beste Konzertfilm überhaupt gehandelt. Tatsächlich, Regisseur Jonathan Demme kann Konzertfilme. Und mehr. Er hat – dies nur in Klammern – auch den wunderbaren Konzertfilm HEART OF GOLD mit Neil Young (2006) gemacht. In die Filmgeschichte ist er zudem für SILENCE OF THE LAMBS (1991) mit Jody Foster und Anthony Hopkins eingegangen.

Also, freut euch auf die nächsten anderthalb Stunden, so lang dauert der Film. Und scheut euch nicht, vor der Leinwand bzw. auf den Seiten zu tanzen. 1984 lief STOP MAKING SENSE monatelang im Kino Le Paris in der Nocturne. Es gibt Leute, die waren damals zehnmal im Kino zum Abtanzen.

Auch wenn die Talkiung Heads zu den wichtigsten Bands der Rockgeschichte zählen, kommerziell waren sie nie eine grosse Nummer. In ihrem Heimatland hatten sie einen einzigen Top 10 Hit («Burning down the house»), keine ihrer LPs schaffte es je in die Top 10.

Heiss geliebt wurden die Talking Heads von ihren Fans nicht nur der Musik wegen, sondern auch für ihre Songtexte, für die in der Regel Sänger und Gitarrist David Byrne zeichnete. STOP MAKING SENSE, das könnte man mit SMS abkürzen. Und genau das sind die Talking Heads auch, eine Art short message service. Nehmen wir als Beispiel den Song “Life during wartime”, der von klandestinen Aktivitäten in den US-Grossstädten Houston, Detroit und Pittsburgh erzählt. Das Ganze spielt während einer Zeit, in der es zu zivilen Unruhen in einer dystopischen Umgebung kommt.

The sound of gunfire, off in the distance 
I'm getting used to it now

This ain't no party, this ain't no disco
This ain't no fooling around

Trouble in transit, got through the roadblock
We blended in with the crowd

We dress like students, we dress like housewives – or in a suit and a tie
I changed my hairstyle, so many times now

We got computers, we're tapping phone lines
I know that that ain't allowed

Das erschien 1979, da hatte noch fast niemand einen Computer, die Studis hackten ihre Arbeiten in die Schreibmaschine. Aber doch: In solchen Zeilen erkannten sich damals nicht nur Studis sondern auch Punks aus Aarau, diese Texte vertonten einen Lifestyle – und ich meine, sie sind zeitlos und bestens gealtert.

Die Dreharbeiten zu STOP MAKING SENSE umfassten vier Live-Shows im Pantages Theatre in Los Angeles zwischen dem 13. und 16. Dezember 1983, im Konzert wurden die Talking Heads begleitet von fünf Gastmusiker:innen. Aber es gibt noch einen weiteren, der vor allem als Geist und Spiritus rector der Band unsichtbar anwesend ist: Brian Eno.
Enos Einfluss auf die Band kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Als Paradiesvogel, der sich demonstrativ als Nicht-Musiker bezeichnete, hatte er die ersten beiden Alben von Roxy Musik am Synthesizer mitgeprägt. Zwischen 1974 und 1977 nahm Eno vier Solo-LPs auf, die für mich zu den einflussreichsten und zeitlosesten der Popgeschichte gehören. Wer sich diese vier LPs heute anhört, weiss, wofür sich die drei Kunststudenten David Byrne (Gesang und Gitarre), Tina Weymouth (Bass und Gesang) und Chris Frantz (Schlagzeug) an der Rhode Island School of Design begeisterten. Eno, das waren eckig-nervöse Songs mit Schrammel-Gitarre mit eingängigen Refrains und Texten, unerhört. So wie auch der Krautrock von Can unerhört war. Den kannten die Talking Heads sicher auch.
1975 gründeten Byrne, Weymouth und Frantz zusammen mit Jerry Harrison von den Modern Lovers in New York die Talking Heads.

Im Februar 1981 erschien die LP MY LIFE IN THE BUSH OF GHOSTS, es war das erste gemeinsame Studioalbum von Brian Eno und David Byrne und Byrnes erste Platte ohne Talking Heads. Das Album integriert gesampelten Lead-Gesang – das war damals völlig neu – und gefundene Klänge, afrikanische und nahöstliche Rhythmen und elektronische Musiktechniken. Die LP wurde in der Zeit zwischen den besten und einflussreichsten Talking Heads-Alben FEAR OF MUSIC (1979) und REMAIN IN LIGHT (1980) aufgenommen, beide wurden von Brian Eno produziert und tragen wie schon das zweite Talking Heads Album MORE SONGS ABOUT BUILDINGS AND FOOD (1978) dessen Handschrift. Eno arbeitete also von 1978 bis 1980 eng und direkt mit David Byrne und den Talking Heads zusammen; es war ihre innovativste Zeit, die ihren sound-mässigen Höhepunkt – dann längst ohne Eno – in der verfilmten Tournee mit dem Namen STOP MAKING SENSE fand: Eine neue Art nervöser Grossstadt-Musik, psychotischem Funk mit afrikanisch inspirierten Rhythmen.

In jener Zeit musste man noch nicht allem eine Diagnose geben, ADHS, Asperger, narzisstische Störung oder Grossstadt-Neurose bzw. -Paranoia? Es wurde viel über David Byrne Psyche spekuliert und einiges davon traf bzw. trifft wohl auch zu. Seine nervös-spastische Bühnenpräsenz, sein bisweilen irrer Blick, sein sich überschlagender, sein unverwechselbarer Gesang trafen auf jeden Fall den Nerv der Zeit. Und bei vielen tut es das heute noch.

Das Tun der beiden in ihre Projekte verliebten Brian Eno und David Byrne wurde von den anderen Talking Heads-Mitgliedern zunehmend argwöhnisch verfolgt. Tina Weymouth und Chris Frantz, die beiden sind meines Wissens bis heute ein Ehepaar, widmeten sich parallel ihrem Projekt Tom Tom Club, Keyboarder Jerry Harrison brachte die grossartige Solo-LP THE RED AND THE BLACK (1981) heraus und produzierte andere Bands, darunter später etwa die Violent Femmes.

Der Film und die Soundtrack-LP STOP MAKING SENSE von 1984 waren ein letzter Höhepunkt der Talking Heads-Bandgeschichte, bloss kommerziell erfolgreicher wurden sie noch. Die Songs der LP LITTLE CREATURES (1985) kann man sich noch gut im polyrhythmischen SMS-Gewand vorstellen, auf TRUE STORIES (1986) bzw. NAKED (1988) wurde die Entfremdung zwischen Byrne und seinen drei Mitmusikern dann immer spürbarer. Die Band war auf einer “Road to Nowhere” (Song von 1985). 1991 gab Byrne seinen Ausstieg aus den Talking Heads bekannt und schlug eine durchaus bemerkenswerte Solo-Karriere ein, die anderen drei erfuhren davon aus einem Zeitungsinterview. Zeitweise war die Zerrüttung total, man verkehrte nur noch via Anwälte miteinander.

2002 kamen die Talking Heads anlässlich ihrer Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame wieder zusammen, um "Life During Wartime", "Psycho Killer" und "Burning Down the House" zu spielen. Im September letzten Jahres wurde STOP MAKING SENSE anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Films in IMAX mit neu gemastertem Ton und Bild wiederveröffentlicht. Die Bandmitglieder gaben eine Reihe gemeinsamer Interviews.
Im Januar 2024 wurde berichtet, die Talking Heads hätten ein 80-Millionen-Dollar-Angebot für eine Reunion-Tour abgelehnt, zu der ein Auftritt beim Coachella-Festival in Kalifornien vor 125'000 Leuten gehört hätte.

Na ja, da sind wir froh, dass wir es hier im Kino gemütlicher haben, der Sound ist hoffentlich super, den Platz zum Tanzen müsst ihr euch nehmen. Seid nachsichtig mit jenen, die es nicht lassen können.

So now, let’s stop making sense and get ready for the Psycho Killer!

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