Interpretationssache?

Dem Strassburger Urteil ist ein Platz in der Rechtsgeschichte sicher. Ob sich das Klima dadurch abkühlt, wird die Geschichte zeigen. Die Schweizer Medien, Politik und Bevölkerung haben mehrheitlich gereizt auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 9. April 2024 reagiert.

In Genf stieg das Thermometer am 14. April auf 28.3 Grad. Trop-chaud.ch.
Paar Gedanken eine Woche nach dem Urteil.

Wo ein E drauf steht, wittert ein Teil der Schweiz Knechtschaft, Kolonialismus, Kapitulation. Europarat oder Europäische Union? EGMR oder EuGH? Menschenrechte oder Wirtschaft? Alles Hans was Heiri.

Was ist geschehen? Die oberste juristische Instanz in Sachen Menschenrechte in Europa hat die Schweiz wegen ihrer ungenügenden Klimapolitik gerügt. Und dies, obwohl die Schweizer Klimapolitik direktdemokratisch legitimiert ist und das Land pro Kopf am wenigsten CO2 emittiert. Wobei letzteres nicht Interpretationssache, sondern Demagogie ist.[1]

Es waren Tage weit verbreiteter Missverständnisse, in denen sich trefflich Empörung bewirtschaften und Clicks generieren liessen. Die erste Empörungswelle ist abgeflacht, die Missverständnisse zu korrigieren wird nicht einfach sein und seine Zeit brauchen.
Doch der Reihe nach.

1.    Beim Urteil über die Klage der «KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz» ging es weder um die Schweiz noch um deren Verhältnis zu Europa, sondern um das Klima. Andreas Zünd, der Schweizer EGMR-Richter, der in Strasbourg gegen sein Land gestimmt hatte (kreisch!), nannte es einen “Zufall”, dass der EGMR sein Leiturteil zur Frage, ob Klimaschutz etwas mit Menschenrechten zu tun habe, just anhand einer Klage aus der Schweiz formuliert hat.

2.    Der EGMR ist Teil des Schweizer Rechtssystems, der sog. Souverän (vulgo das Volch) hat das 2018 mit der 66%-Ablehnung der SVP-Selbstbestimmungsinitiative bekräftigt. Kein einziger Kanton war dafür. Bis zum Widerruf gilt: «Fremde Richter» rule ok.

3.    Der EGMR hat der Schweiz mit keinem Wort im 260seitigen Urteil Vorschriften gemacht, wie sie die im Rahmen des Pariser Klimaabkommens von 2015 gemachten Zusagen einhalten soll, ihre CO2-Emissionen zu reduzieren.

Diese drei Punkte haben die Kommentator:innen in aller Welt verstanden. Aber nicht das Drittel jener Schweizer:innen, die das staats- und rechtspolitische Verständnis der grössten Schweizer Partei und ihrer Juniorpartnerin, der Gründerin der modernen Schweiz (1848), teilen. Das ist betrüblich, mehr nicht, dafür interessiert die Meinung dieser Kreise international zu wenig. Das EGMR-Urteil wird seine Wirkung in 46 Europarat-Staaten mit 676 Millionen Bürger:innen auch ohne sie entfalten.

Jetzt aber dies. Sicher kann man darüber streiten, ob Klimaschutz ein Menschenrecht sei, wie das der EGMR mit unzweideutiger Klarheit festgehalten hat. Bis vor einer Woche wurden Menschenrechte landläufig mit Folterverbot, Meinungsäusserungs- oder Versammlungsfreiheit in Verbindung gebracht, vielleicht sogar mit dem Recht auf Arbeit oder dem Recht auf Wohnen. Wobei letztere beide nicht Teil der Europäischen Menschrechtskonvention (ERMK) sind, über deren Umsetzung der EGMR wacht.

Während die einen darauf pochen, dass Klimaschutz nie und nimmer die Angelegenheit von Richter:innen sein könne, verweisen andere darauf, dass Grundrechte immer bewusst offen formuliert seien. Prof. Markus Schefer, Staatsrechtler an der Universität Basel wird in der NZZaS zitiert: «Es ist eine wichtige Aufgabe von Gerichten, das Recht auf neue Bedrohungslagen anzuwenden. Der Klimawandel ist eine solche Bedrohung».

Ob die immer näher kommende Klimakatastrophe etwas mit den Menschen zu tun hat? Soll man darüber streiten? Seit letzter Woche wissen wir, dass sie etwas mit Menschenrechten zu tun hat. So hat das der EGMR interpretiert.

Rechte Kulturkämpfer:innen werfen den Strassburger Richter:innen vor, Klimaaktivist:innen in Anwaltsroben zu sein. Angesichts fehlender Argumente wirken solche Angriffe merkwürdig fadenscheinig. Anders als die Schweiz hatte das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel auf seiner Seite, sondern auch bindende völkerrechtliche Abmachungen[2], welche die Schweiz ratifiziert hat. Die Urteilsbegründung bezieht sich explizit darauf.

Cool auf das Urteil reagiert haben übrigens Alain Chablais, der die Schweiz vor Gericht vertreten hat, aber auch höhere Berner Beamte. Anders als einige Schweizer Medien haben sie ganz einfach die Logik und die Herleitung dessen verstanden, was der EGMR verfügt hat.

Die Hoffnung, dass das Strassburger Urteil etwas bewirkt, stirbt zuletzt.

Der Autor hat 2023 Greenpeace bei der Anhörung der KlimaSeniorinnen in Strassburg auf Mandatsbasis bei der Medienarbeit unterstützt. Greenpeace hat den Verein KlimaSeniorinnen initiiert und unterstützt diesen juristisch und finanziell.
Aktuell arbeitet Daniel Hitzig als Co-Autor am unabhängigen Film «
Trop chaud», der im Frühling 2025 fertiggestellt und gratis im Internet verfügbar sein wird. Regie: Benjamin Weiss.


[1] Diese gebetsmühlenartig kolportierte Behauptung ist weit von den Tatsachen entfernt. Wenn der CO2-Abdruck, den die Schweizer:innen mit ihren Importen (Nahrung, Kleider, Energie, etc.) hinterlassen, mitgemessen wird, dann liegt die Schweiz am Ende der Rangliste.

[2] Rio Earth Summit (1994), Kyoto-Protokoll (2003) sowie namentlich das Pariser Abkommen (2016)

Zurück
Zurück

Unser Film und das liebe Geld

Weiter
Weiter

Stop Making Sense