Die Sache mit der Wahrheit

Die Wahrheit sei immer das erste Opfer des Krieges, lautet ein bekanntes geflügeltes Wort. Wobei es seit Aischylos – diesem alten Griechen wird das Zitat zugeschrieben – gewiss nicht einfacher geworden ist zu definieren, was denn eigentlich Wahrheit ist. Und auch mit dem Krieg ist es so eine Sache: Längst gibt es neben Luftangriffen, rollenden Panzern und Schützengräben auch den Propagandakrieg, den asymmetrischen Krieg, den Cyberkrieg etc. Ein Beispiel, wie schwierig es ist herauszufinden, was Sache ist, ist der Ukraine-Konflikt, der seit Wochen unsere Medien beherrscht. Die Invasion der Ukraine («der Krieg») hat zwar trotz termingenauer Ankündigung durch US-Geheimdienste zum Glück bis jetzt nicht stattgefunden, aber herrscht im ost-ukrainischen Donbass nicht eigentlich schon seit 2014 Krieg – mit über 13'000 Toten, Zehntausenden Vertriebenen und Schäden in Milliardenhöhe?  

Medien informieren uns laufend über Konflikte und Kriege. Und aufgeklärte Medienkonsument:innen wissen mehr oder weniger, welches Medium welchen Konflikt durch welche Brille analysiert. Zu wissen, dass der Chefredaktor der NZZ ein überzeugter «Atlantiker» mit Spezialgebiet Nachrichtendienste ist, macht die Lektüre dieser Zeitung in diesen Tagen noch etwas erwartbarer. Was nicht dasselbe ist wie überflüssig. Es steht uns ja zum Glück frei, uns auch anderswo eine Meinung zu bilden, wie es sich mit tatsächlichem oder vermeintlichem Alarmismus, mit Wahrheit oder Unwahrheit verhält. 

Als nach wie vor hervorragender Beobachter fällt Erich Gysling in seinen im Journal21 («journalistischer Mehrwert») publizierten Analysen auf. Schon Mitte Januar ging er der Frage nach, was an der Behauptung dran ist, dass die Russen nach dem Ende der Sowjetunion von der Nato Zusagen erhalten hätten, die später reihenweise gebrochen worden seien (Warum diese Eiszeit?). Hochinteressant zu sehen auch, wie Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 (Bild «Frieden durch Dialog») den Westen eindringlich warnte, sich nicht in der russischen Einflusssphäre breit zu machen, dabei aber nur Kopfschütteln erntete; seither hat der russische Präsident den Westen in Georgien, auf der Krim, im Donbass, in Syrien, in Zentralafrika und zuletzt in Mali strategisch regelrecht vorgeführt. Nachzusehen und hervorragend eingeordnet in der Arte-Dokumentation Die Rückkehr des russischen Bären

Und wie war das mit der Wahrheit? Stimmt es etwa nicht, dass die Ukraine gemäss Völkerrecht als souveräner Staat selbst entscheiden darf, welcher Wirtschaftszone oder welchem Verteidigungsbündnis sie sich anschliessen will? Natürlich stimmt das, aber es ist leider primär schöne Theorie. Umso wichtiger ist es, dass UNO-Experte Andreas Zumach in der WochenZeitung darlegt, wie ein realistischer Ausweg aus der Krise ohne Eskalation aussehen könnte. Und dieselbe Zeitung die berechtigte Frage stellt: Wo bleibt eigentlich die Friedensbewegung? (Die Stille der Strasse).

An der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz genau hingehört hat Guido Steingart vom deutschen Medienportal «The Pioneer», dessen pointiert liberale Weltsicht in seinem Morning Briefing täglich und umsonst zu lesen ist. Auf die Frage eines Journalisten der Süddeutschen Zeitung, ob die USA bereit wären, ihre Soldaten von der Ostflanke der Nato abzuziehen, sagte der US-Aussenminister Blinken zunächst klar nein. Um dann folgenden Satz hinterher zu schicken: «Wenn es darum geht, Vertrauen aufzubauen, Risiken zu verringern, Rüstungskontrolle zu betreiben, die Stationierung von Waffensystemen, Streitkräften oder Übungen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit zu überprüfen, dann könnten wir Schritte unternehmen, um die kollektive Sicherheit zu stärken. Dann lautet die Antwort: Ja.» Weingart dazu: «Vielleicht wäre es schlauer gewesen, dieses westliche Angebot auf offener Bühne und in großer Klarheit zu präsentieren anstatt es in einem Interview zu verstecken, zugänglich nur für sicherheitspolitische Feinschmecker. Im Getöse der Kriegstrommeln gehen die feineren Töne schnell unter.» Um dann – natürlich nur die anderen – Medien leicht süffisant aufzufordern, «sich in dieser angespannten Situation nicht als Trommler des Krieges, sondern als Seismografen der Vernunft zu betätigen. Der grosse Krieg, das weiss heute jedes Kind, beginnt nicht mit dem ersten Schuss, sondern beginnt mit dem lustvollen Schüren von Kriegsbereitschaft im Namen der Wahrheit. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: Ich glaube jedem, der die Wahrheit sucht. Ich glaube keinem, der sie gefunden hat.»

Noch ein schönes Zitat also zum Schluss. Wobei ich Tucholsky eigentlich immer gut finde. 

PS. Vier Tage nachdem ich diese Zeilen geschrieben habe, hat Putin für fast alle Beobachter:innen überraschend weiter und massiv an der Eskalationsschraube gedreht. Weitgehende Einigkeit besteht, dass die nach dem 2. Weltkrieg von unterschiedlichen ideologischen Lagern errichtete globale Sicherheitsarchitektur – das von der UNO garantierte Völkerrecht – einen weiteren massiven Schlag erhalten hat. Mit sehr weitreichenden und unangenehmen Perspektiven nicht nur für Europa. Es gibt wahrlich Grund, beunruhigt zu sein.

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Ach Schweiz, du und deine Expos…

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