Gaza – mein (vorläufiges) Fazit

Der siebte Oktober 2023 hat sich der Welt wie 9/11/2001 ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben. Warum war die Welt vorher eine andere als danach? Darüber lässt sich trefflich nachdenken, aber auch polemisieren, analysieren oder rumkrakeelen. Ich habe in den letzten Wochen viel zur jüngsten Eskalation in Israel/Palästina gelesen, gehört und gesehen und mit Freund:innen darüber geredet. Zeit für mich, einen vorläufigen Punkt zu machen.

Vorbemerkung: Ich habe 1992/93 während 15 Monaten als IKRK-Delegierter in den von Israel besetzten Gebieten gearbeitet, die meiste Zeit davon in Gaza. Vieles des damals Erlebten ist mir in den letzten Wochen wieder durch den Kopf gegangen.

Das Schicksal wollte es, dass ich im Februar 1992 zusammen mit Yves Daccord von Genf nach Jerusalem geschickt wurde. Gemeinsam besuchten wir einen 10wöchigen Crashkurs, um Gefängnisarabisch zu lernen und wurden Freunde. Yves war zuständig für Hebron in der West Bank, ich im Gazastreifen mit Büroverantwortung in Khan Younis bzw. Rafah. Wir besuchten Gefangene in U-Haft bzw. im Vollzug und beobachteten, inwiefern Israel die IV. Genfer Konvention sur le terrain einhält. Yves verliess das IKRK erst 2020 wieder als dessen Generaldirektor, ich hängte nur noch einen weiteren Einsatz in Bagdad bzw. Basrah (Irak) an. Wir haben damals viel über den Konflikt geredet. Und haben nie damit aufgehört.

In Erinnerung geblieben sind mir aus dieser Zeit u.a. folgende Dinge:

·      Die israelische Besatzung hatte etwas absolut Gnadenloses, die Unmöglichkeit für die Palästinenser:innen, ihr eigenes Leben zu leben, war für diese in erster Linie mental schwer auszuhalten. Egal ob Intellektuelle oder Shebab, die Steine werfenden Jungs in den israelischen Gefängnissen, sie alle konnten weder verstehen noch akzeptieren, wieso sie von der Welt nach der Gründung Israels dermassen den Kürzeren gezogen hatten. Und von den arabischen Brüdern – die Schwestern hatten schon damals einen schweren Stand in der arabischen Welt – gleichermassen wie von Europa und den USA im Stich gelassen wurden. Die sozialistische Welt, wo viele von ihnen studiert hatten, gab es nicht mehr, der Einfluss des Iran in der Region war noch vergleichsweise gering, die Türkei arbeitete noch nicht an ihrer osmanischen Renaissance.

·      Wir nahmen Israeli und Palästinenser als tief verfeindete Cousins wahr. Beide hatten ihre kollektiven Traumata, an denen sie sich abarbeiteten. Beide hatten eine Diaspora, die im politischen Diskurs eine wichtige Rolle spielte. Gemeinsam hielten Israeli und Palästinenser immerhin daran fest, dass jedes Opfer im Konflikt eines zu viel sei. Die Spannung – es war gegen Ende der ersten Intifada – war zwar gross und latent, in Gaza gab es regelmässig Clashes mit Tränengas und Verletzten, aber von Tag zu Tag Dutzende, Hunderte von Toten? Nein, das kannten wir nicht. So wenig wie es auf palästinensischer Seite Waffen gegeben hätte. Omnipräsent war dagegen schon damals die Asymmetrie des Konflikts.

·      Beeindruckt waren wir, dass es den Israeli bis dato nicht gelungen war, die Palästinenser zu spalten. Denn es war die Zeit, als Israel gezielt damit begonnen hatte – wie wir heute wissen sehr erfolgreich – an dieser Spaltung zu arbeiten.[1] Über Jahre hatten die Gesprächspartner des IKRK auf palästinensischer Seite zur PLO gehört – der Mainstream zu Arafats Fatah, die Linken zur PFLP – erst seit Kurzem waren neue islamistische Akteure (Hamas, Jihad) auf den Plan getreten. Zu meinen Aufgaben in Gaza gehörte es, Kontakte zu diesen zu knüpfen, ihnen die Position des IKRK und das humanitäre Völkerrecht näher zu bringen. Ich erinnere mich gut an Treffen mit zwei Politikern aus der Hamas-Gründergeneration, beide wurden später (2004 bzw. 2008) von Israel in Gaza aussergerichtlich hingerichtet.
Im Wesentlichen gab es 1992 im ganzen Gaza-Streifen eine einzige asphaltierte Strasse, die den Checkpoint Erez im Norden mit jenem an der ägyptischen Grenzen in Rafah im Süden verband. Der Rest waren Sandpisten. Die Bevölkerung des Streifens betrug damals rund 1 Million Menschen, gut zwei Drittel davon waren Abkömmlinge jener 200‘000, die im Rahmen der Vertreibung durch die Israeli (der sog. Naqba von 1948) in den damals ägyptisch kontrollierten Streifen geflohen waren. Heute kursiert in den Medien die Zahl von 2.2 Millionen im Gaza-Streifen. Das am dichtesten besiedelte Gebiet der Welt ist übrigens nicht Gaza City sondern Monaco vor Singapur. Der Unterschied: aus Gaza kommt (fast) niemand raus. Und das seit Jahrzehnten.

Zurück zu heute.

·      Die Planung des Hamas-Angriffs war israelischen Diensten bekannt und doch liessen sich die Israeli Defence Forces IDF am 10-7 vom Hamas-Angriff überrumpeln. Wirklich überrascht waren die Israeli auch vom ausgebauten Tunnelsystem der Hamas nicht. Denn Israels Aufklärung weiss (fast) alles. Das gibt viel Raum für Spekulationen. Fakt ist, dass Israel seit dem 7. Oktober in Gaza und der West Bank Hunderttausende von Palästinenser:innen aus ihren Häusern vertrieben hat. Und im Gaza-Streifen neben Wohnhäusern gezielt Bildungseinrichtungen, Spitäler, Gerichts- und das Parlamentsgebäude zerstört hat. Der israelische Rachefeldzug nach 10-7 lässt bis jetzt nur ein Ziel erkennen: Erez Israel soll vom Jordan bis ans Mittelmeer reichen, from the river to the sea. Schwer zu erkennen, welchen Platz Palästinenser darin einnehmen sollen.

·      Mit seiner Aussage, dass der – mit stärksten Worten verurteilte – Hamas-Angriff nicht aus einem Vakuum gekommen sei, hat UN-Generalsekretär Guterres eine unbestreitbare Tatsache angesprochen. Er hat dafür einen Shitstorm geerntet und wurde zum Rücktritt aufgefordert. Whataboutism wäre eines UN-Generalsekretärs tatsächlich unwürdig. Darf er jedoch Tatsachen nicht mehr aussprechen, halte ich das für bedenklich und beunruhigend.

·      Spezielle Aufmerksamkeit verdient die Antisemitismus-Debatte, die in den letzten Wochen namentlich im deutschsprachigen Raum viel Raum einnahm. Die Schriftstellerin Eva Menasse, ihr Vater war Jude, hat ihre differenzierte Position in einem ZEIT-Gespräch vom 3. November („An Israel spaltet sich die Linke“) erläutert, sie ist im deutschsprachigen Diskurs heftigster Kritik ausgesetzt. In der NZZ am Sonntag vom 17. Dezember („Eva Menasse antwortet ihren Kritikern“) hat sie darauf geantwortet:

Ich konzediere, dass alle beklommen sind. Die multiplen Krisen der Gegenwart machen uns noch alle verrückt. Seit Russlands Krieg gegen die Ukraine, besonders seit der blutigen Eskalation im Nahen Osten nach dem Massaker der Hamas sind die Empfindlichkeiten noch gestiegen. Der würgende Wunsch, auf der garantiert richtigen Seite zu stehen, erzeugt auf der Kehrseite Verbalaggression. (…) Ohne Bedacht auf meine Herkunft und ohne weiteren Beleg unterstellte mir der Historiker Ernst Piper «selbstherrliche Verachtung Israels» (Piper glaubte allerdings auch bis letzte Woche, dass Amos Oz noch lebt). Paul Jandl verdrehte mir das Wort im Mund. Dabei ist nichts Schlimmeres geschehen, als dass ich in einem Punkt (alte Unterschrift für BDS erzwingt sofortige Preisunwürdigkeit) nicht gleicher Meinung bin. (…) Im PEN Berlin versuchen wir mit aller Kraft, miteinander im Gespräch zu bleiben, andere Perspektiven wahrzunehmen, auch die unserer arabischen Mitglieder. Nur hier lässt sich gerade etwas lernen. Ob Ernst Piper es mit der Starautorin des Piper-Verlags, mit Hannah Arendt, in einem Verein ausgehalten hätte? Ihre scharfe Kritik an israelischer Politik ist bekannt. Falls nicht, sei ihm der grosse Essay des leider schon verstorbenen Amos Oz empfohlen: «Wie man Fanatiker kuriert».

Hier noch ein paar Links auf Beiträge, die mir in den letzten Wochen durch ihre nüchterne Haltung aufgefallen sind:

·      Susanne Brunner, Auslandchefin von Radio SRF mit langjähriger Erfahrung als Korrespondentin im Nahen Osten, erzählt die Familiengeschichte der palästinensisch-israelischen Schriftstellerin Fida Jiryis („Israel/Palästina – 100 Jahre Blut und Tränen“, „International“ vom 18. November 2023). Jiryis‘ Vater hatte sich der PLO in Beirut angeschlossen, nur dank einer Klausel im Oslo-Vertrag konnte die Familie in ihre Heimat in Galiläa zurückkehren.

·      Das Radio SRF „Tagesgespräch“ mit Andreas Wimmer (15. Dezember 2023), Konfliktforscher und Professor an der Columbia University, USA. Dass die Zweistaatenlösung durch die jüngste Entwicklung „in zwei bis fünf Jahren“ doch noch Realität werden könnte, wage ich zu bezweifeln. Prägnant und zutreffend dagegen Wimmers Einschätzung dessen, was an US-Universitäten offenkundig schiefläuft, interessant auch, wie er den Palästina-Konflikt vor dem Hintergrund der postkolonialen Theorie liest. Und: Er spricht von Marwan Barghouti, dem inhaftierten Fatah-Leader, der oft als „palästinensischer Mandela“ bezeichnet wird. Seit 2002 ist er in israelischer Haft und hat entsprechend Kredit bei Palästinenser:innen aller politischen Couleur. Aber: Mandela hatte mit Frederik de Klerk ein Gegenüber, ein solches ist in Israel nicht in Sicht. Frieden wird es nur zu zweit geben.

·      Die Diskussion über die Haltung zu Israel unter den traditionell demokratisch wählenden Juden in den USA wird mit einer noch nie gesehenen Deutlichkeit gegenüber Israel geführt. Mit Rabbi Sharon Brous („some aspects of Israel have become indefensible“) ist mir eine dieser Stimmen im Netz begegnet. Gut denkbar, dass die jüdische US-Wählerschaft – und mit ihr die Intelligenz an der Ostküste bzw. in Kalifornien – Joe Biden dazu bringt, den zuletzt deutlicher gewordenen Worten des Weissen Hauses Taten folgen zu lassen. Höchste Zeit dafür, möchte man anfügen, denn das muslimische Amerika muss die Biden-Administration erst wieder zurückgewinnen. Und 2024 ist ein US-Wahljahr.

Speziell nachdenklich stimmt, wie rechte und nationalistische Parteien weltweit sich in diesen Wochen hinter der Regierung Netanyahu sammeln bzw. diese verteidigen, mit allem was dazu gehört: Selbstverteidigung kennt keine roten Linien, die Institutionen des internationalen Rechts werden aus Prinzip abgelehnt, verunglimpft und verhöhnt.

Zurück zu meinem Freund Yves Daccord, dessen Fähigkeit zur Analyse mich immer fasziniert hat. Er meint, in den nächsten fünf bis zehn Jahren werde sich entscheiden, ob Israel – er sieht dabei eine zentrale Rolle der Diaspora – seinen Platz in dieser Welt findet. Entweder schaffe es Israel, sich neu zu erfinden und ein von seinen Nachbarn und der Mehrheit der Staatengemeinschaft respektiertes Mitglied zu werden. Oder eben nicht. Zu welchem Preis, mit welchen Konsequenzen, das wollen wir uns lieber nicht ausmalen.


PS. Wer bis hierher gelesen hat und sich fragt, wieso ich mich nicht entschieden von Hamas und ihrem hochgradig zynischen Kalkül distanziere, sei versichert: Ich tu es und zwar aus tiefster Überzeugung. Ich finde es unerträglich, wenn Menschenleben unterschiedlich viel Wert beigemessen wird. Hüben wie drüben.

[1] Wie sich die israelische (Innen-)Politik seit jener Zeit entwickelt und radikalisiert hat, davon erzählt der arte-Film  «Israels Kampf der Stämme»

Zurück
Zurück

8424 – kes Gliir

Weiter
Weiter

Der (Um-)Weg über die Justiz